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des Gutachtens von Ao Univ.-Prof. Dr. med. Peter Lercher, M.P.H., Götzens, Juli 2015
(Seite 128 – 148: Literaturverzeichnis, Anhang, Abkürzungsverzeichnis)
Hervorhebungen wie im Originaltext
Hinweis: das sehr interessante Kapitel „6.4 Die Bedeutung von Normen und anderen Elementen zum Schutz der Gesundheit“ ist am Ende der Zusammenfassung angehängt
6.5 Bewertung bisheriger Maßnahmen
Es ist festzuhalten, dass seit 2012 umfangreiche Maßnahmen zur Immissionsreduktion im Erschütterungsbereich durchgeführt wurden (tappauf.consultants 2015, GA Flesch, 2015). Diese Umsetzung hat an einzelnen vergleichbaren – aber nicht an allen – Messpunkten zu signifikanten Verbesserungen geführt.
Mögliche akustische und psycho-akustische Besonderheiten der Variobahn wurden vor der Beauftragung durch den Unterzeichneten nicht als mögliche Mitverursachung der anhaltenden Beschwerden der Anrainer in Erwägung gezogen, da das akustische Gutachten (GA Kirisits) keine Überschreitungen der klassischen Standards (in dBA) nachweisen konnte.
Es war deshalb die essentielle Aufgabe der Messreihe vom Juli 2014 bis Jänner 2015, mit einem erweiterten Untersuchungs- und Interpretationsansatz das Reduktionspotenzial in diesem bisher nicht beachteten Bereich auszuloten.
Dieses präventive Potenzial konnte in den detaillierten Auswertungen (Kap. 4.4) sichtbar gemacht werden und erscheint geeignet nach den in Kap. 6.6.2 und Kap. 6.6.3 vorgeschlagenen integrierten Maßnahmen sich den übergeordneten präventiven Zielvorstellungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit anzunähern.
6.6 Zielvorstellungen und Maßnahmenkatalog
6.6.1 Präventive Zielvorstellungen
Vorrangiges Ziel muss die Entlastung der Anrainer in den Nachtrandstunden sein, um normale Schlafbedingungen wiederherzustellen und damit nachhaltig möglichen Gesundheitsbeeinträchtigungen durch längerdauernde Belastungen vorzubeugen (Kap. 6.3.3).
Ein wesentlicher Aspekt der Maßnahmen sollte jedenfalls sein, die Ungleichbehandlung der Straßenbahnanrainer gegenüber den Vollbahnanrainern entsprechend zu verringern und einen Immissionsschutz für die Erschütterungen bei 5 mm/s2 aWs für den Maximalwert der Vorbeifahrt als Zielvorgabe zu setzen, damit die relevanten Spitzen für einen Großteil der Betroffenen nur knapp über der Wahrnehmungsgrenze zu liegen kommen.
Es ist zu empfehlen, auch die Zielvorstellungen für das Auftreten des sekundären Luftschalls dementsprechend zu adjustieren. Der Zielbereich sollte mit 25-27 dBA,max anvisiert werden und sich am guten Schutz gemäß ÖNORM S 9012 orientieren.
Es ist möglich, dass diese kombinierte Zielvorstellung (5 mm/s2 und 25-27 dBA,max) nicht an allen Bestandsorten im innerstädtischen Kernbereich umsetzbar sein wird, da z.B. Verbesserungen des Fahrbahnuntergrundes Grenzen durch vorhandene Strukturen (z.B. Wasser-, Gasleitungen) gesetzt sein können.
Ferner können auch fixierte baudynamische Gegebenheiten an der Endstrecke der Ausbreitung der Erschütterungs-Immissionen zum betroffenen Menschen hin die Optionen zur Setzung von Maßnahmen einschränken.
Beim Ausbau des Netzes („Neustrecken“) sollte diese kombinierte präventive Zielvorstellung als Planungsgrundlage eingehen, wenngleich auch in dieser Situation möglicherweise nicht an allen Stellen die kombinierte Zielvorstellung (5 mm/s2 und 25-27 dBA,max) mit einem akzeptablen Kostenrahmen und hinreichender Planungssicherheit erreicht werden kann.
Wie bei anderen Regelungen zum gesundheitlichen Schutz des Menschen (z.B. Förderung von Schallschutzfenstern statt aktivem Schallschutz) könnte in einem solchen kritischen Planungsfall auf die präventive Zielvorstellung hin geplant werden – jedoch eine Kostenüberschreitung durch Sondermaßnahmen, z.B. auf das 3-fache für einen solchen definierten Abschnitt begrenzt werden, wenn darüber hinaus keine effiziente Verbesserung mehr erreicht werden kann.
Bisher als mögliche Ursache berichteter Störung vernachlässigt – sollte jetzt eine Verringerung der beobachteten hohen akustischen und psychoakustischen Lästigkeit der Immissionen durch die Variobahn als wesentlicher Teil der Zielmaßnahmen in den Vordergrund rücken. Dabei ist der Reduktion der hohen Variabilität und einer Verbesserung der durch die psycho-akustischen Indikatoren (insbesondere: Schärfe und der Rauigkeit) angezeigten – die Wahrnehmbarkeit und Lästigkeit steigernden Immissionscharakteristika -, höchste Priorität einzuräumen.
Das ist am besten dadurch erreichbar, dass ALLE Straßenbahnen mit Hilfe von Qualitätskriterien nach ihrer „Geräuschqualität“ klassifiziert und gereiht werden. Die hinsichtlich ihrer „Geräuschqualität“ besten Fahrzeuge können dann gemäß Punkt 6.6.2.a bevorzugt in den Nacht- und später auch in den Abendstunden (5 dBA-Erfordernis gemäß Umgebungslärmrichtlinie) zum Einsatz kommen.
Dabei sollten diejenigen Variobahnen, welche diese Kriterien bereits jetzt erfüllen (gemäß der Analysen im Kap. 4.4), als Basis für die Erreichung der Zielwerte der anderen Fahrzeuge mit schlechterer „Geräuschqualität“ herangezogen werden.
Dazu sind vorrangig weitere vertiefende Analysen des aktuellen Datensatzes auf individuellem Fahrzeugniveau sinnvoll. Ziel dieser Analyse soll eine Selektion von Fahrzeugen sein, welche den besten Anforderungen zur kombinierten Vermeidung von Erschütterungen und psychoakustischen Besonderheiten (Schärfe, Rauigkeit) genügen und minimale Variationsbreiten am Immissionsort aufweisen.
6.6.2 Implementierung von Maßnahmen
Zur kurzfristigen Reduktion starker Belästigung bzw. möglicher Gesundheitsbeeinträchtigung (Kap. 6.3.3 und 6.1) sind folgende hierarchisierte Maßnahmen (für den besonders kritischen Nachtzeitraum 22-6 Uhr) zu empfehlen:
a) Ausschließlicher Einsatz der nach erfolgter Analyse selektionierten Fahrzeuge mit dem niedrigsten Immissionscharakter im Nachtzeitraum und nach Maßgabe betriebstechnischer Möglichkeiten später auch in den Abendstunden
b) Überwachte reduzierte Geschwindigkeit an kritischen Punkten nach technischen Kriterien (Kreuzungen, Weichen, Kurven)
c) Intensivierung der Gleispflege
Zur nachhaltigen Prävention wird ferner empfohlen über den derzeitigen Stand der Technik hinausgehende innovative Maßnahmen zu setzen:
d) Weitere experimentelle Maßnahmen am Fahrzeug (in Kombination mit Punkt 6.6.3)
e) Weitere experimentelle Maßnahmen am Fahrweg an kritischen Stellen (in Kombination mit Punkt 6.6.3)
6.6.3 Unterstützende Maßnahmen zur Zielerreichung
6.6.3.1 Öffentlichkeitsmaßnahmen
Es ist wesentlich das Vertrauen in die Politik und die Holding als Lösungsquelle wiederherzustellen. Dazu sind verschiedene Maßnahmen zielführend:
- Online Veröffentlichung der Messdaten der Dauermessstelle Sackstraße 14
- Einrichtung einer neuen Dauermessstelle oder längerdauernde Messungen (~1 Monat) an kritischen Stellen mit höherer Belastung
- Professionell moderierte Sitzungen mit Bürgerinitiative, Experten und Holding-Vertretern mit adäquater Risikokommunikation
6.6.3.2 Technische und administrative Maßnahmen
- Erstellung des Qualitätskriteriums zur Reduzierung der nach akustischen und psychoakustischen Indikatoren durch erhöhte Variation und Lästigkeit auffallende Variobahnen – aber auch der Altfahrzeuge
- Prüfung der Vorschläge und ihrer Umsetzbarkeit aus dem GA von Prof Flesch Prüfung der im Abschlussbericht des CargoVibes Projekt genannten möglichen technischen Maßnahmen und ihrer Umsetzung (CargoVibes 2014)
- Beiziehung der Herstellerfirma Stadler zur primären Emissionsreduktion am Fahrzeug
- Beiziehung externer Experten zur technischen Wirksamkeitsabschätzung kombinierter Maßnahmen am Fahr- und Ausbreitungsweg
Die Umsetzung der vorgeschlagenen integrierten Maßnahmen entsprechend der Zielvorstellungen sind nach dem Stand dieses erweiterten Untersuchungsansatzes in der Lage starke Belästigungen bzw. mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit auf ein zumutbares Maß im Gesamtkontext der Notwendigkeit der Durchführung des öffentlichen Verkehrs in Graz zu begrenzen (siehe dazu die Erläuterungen in Kap. 6.1 und 6.3.3).
Die gesundheitliche Vorbelastung durch die Luftschadstoffimmissionslage in Graz erlaubt keine weiteren Luftschadstoffemittenten (insb. Verbrennungsmotoren) als Träger des öffentlichen Verkehrs.
gezeichnet
Götzens, Juli 2015
Ao Univ.-Prof. Dr. med. Peter Lercher, M.P.H.
6.4 Die Bedeutung von Normen und anderen Elementen zum Schutz der Gesundheit
Es ist notwendig festzustellen, dass die Normen keinen gesicherten Schutz vor individuellen Gesundheitsstörungen darstellen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, für Standardsituationen und den typischen Durchschnittsmenschen einen Mindestschutz zu gewährleisten. Jedem Betreiber von Schienenfahrzeugen steht es jedoch frei, diesen Schutz wegen spezifischer lokaler oder regionaler Besonderheiten zu verbessern.
Wenn die Expositionssituation von einer Standardsituation abweicht (wie in Graz; siehe Kap. 6.1), ist der klassische Schutz durch die Anwendung der Einzelstandards aus der Perspektive der Gesundheitsbeurteilung meist nicht mehr gegeben. Der angedachte Schutz kann sich weiter verringern, wenn gleichzeitig mehrere Immissionen durch eine Quelle auftreten (Vibration, primärer und sekundärer Luftschall), welche verstärkend auf die Wahrnehmung und Belästigung einwirken (siehe Abb. 1 und Abb. 52). Da die Normen immer nur eine Immission („monosensorisch“) berücksichtigen, werden Wechselwirkungen oder kumulative Wirkungen mit anderen gleichzeitig auftretenden Immissionen deshalb per se nicht berücksichtigt.
Die vorliegende Literatur weist aber darauf hin, dass bei zusätzlicher Wahrnehmung von Erschütterungen bereits ähnlich hohe Belästigungsreaktionen wie bei bis zu 10 dBA niedrigeren Schallpegeln auftreten. Diese aus der Literatur ableitbare Einschätzung ist jedoch nicht in die aktuelle nationale ÖNORM S 9012 eingegangen und kam deshalb in den Vorerhebungen nicht zur Anwendung.
Die Inflexibilität bei der Umsetzung von Normen kann ein weiterer Nachteil sein. So verlangt die ÖNORM S 9012 die Anwendung der Wm-Gewichtung der gemessenen Erschütterungen. Wie im Kap. 3.2.2.2 ausgeführt, wäre im Fall der Haupt-Immissionscharakteristik (20-40 Hz) aus der humanen Wirkungsperspektive möglicherweise die Wk-Gewichtung passender, weil sie die Wahrnehmbarkeit dieser Frequenzen besser abbilden würde. Die Größenordnung dieses Unterschieds würde jedoch nicht zu einer veränderten Gesamtbewertung in diesem Beurteilungsfall führen.
Auch durch die in der ÖNORM S 9012 verlangte „slow“ Zeitintegration führt zu einer gewissen Unterschätzung der wahrnehmbaren Spitzen (Kap. 3.2.2.2) – aber zu keiner unterschiedlichen Abschätzung in Bezug auf die Einhaltung der ÖNORM S 9012.
Schließlich ist festzuhalten, dass die Normen nicht unbedingt dem Stand des Wissens der Wirkungsforschung entsprechen. Dies ist in diesem Fall spezifisch für beide Schienenimmissionsverordnungen (SchLV und SchIV) zutreffend.
Erste Folge ist eine Zulassungspraxis (SchLV), wo – auch für ein Neufahrzeug – jede Erhöhung bis zum Grenzwert (einer veralteten Immissionsverordnung) möglich ist. Es wird kein Unterschied zwischen der Zulassung einer Vollbahn und einer Straßenbahn gemacht. Ferner wird die Zulassung (SchLV) ohne Prüfung der Erschütterungsimmissionen vergeben.
In weiterer Folge ist die Schienenimmissionsverordnung (SchIV) mitverantwortlich für einen extrem hohen Einschreitwert (im EU-Vergleich) für Schienenlärm im Rahmen der Lärmaktionsplanung. Dieser hohe Einschreitwert ist auch verantwortlich dafür, dass im Rahmen der durch die Umgebungsrichtlinie notwendigen Lärmaktionsplanung „keine Auffälligkeiten“ durch die Grazer Straßenbahn zu berichten waren.
Schließlich kommt es durch die unterschiedliche Begutachtungspraxis zu beträchtlichen Ungleichbehandlungen für die Anrainer von Schienenwegen. Während z.B. beim Neubau der Brennerbahn im Unterinntal oder bei der Koralmbahn die Anrainer mit einem Kb-Wert von 0.1 (3.57 mm/s2) bzw. 0.15 geschützt werden liegt der äquivalente Schutz gemäß ÖNORM S 9012 für guten Schutz vor Straßenbahnerschütterungen bei einem Kb-Wert von ca. 0.3 (9.4 mm/s2) und für ausreichenden Schutz bei ca. 0.5 (18.8 mm/s2).
Der schwer nachvollziehbare Unterschied kommt deshalb zustande, da die Straßenbahn als Bestandsstrecke klassifiziert wird und deshalb die Belastungen bis zur Höchstmarke (18.8 mm/s2) ausgelastet werden dürfen.
Durch die wahrnehmbare Änderung der Immissionssituation in Folge der Einführung der Variobahn hätte eine Umweltverträglichkeitsprüfung bereits früher auf die problematische Situation aufmerksam machen können.
In UVP-Rahmen wären Wechselwirkungen bereits vor der Implementierung eines neuen Systems Thema geworden. Ferner wäre auch die spezifische akustische Situation genauer untersucht worden.
Ob jedoch eine adäquate Einschätzung stattgefunden hätte bleibt letztlich fraglich, da die Variobahn psychoakustische Besonderheiten aufweist, welche in einer typischen UVP nicht untersucht worden wären. Deshalb geht diese fokussierte Untersuchung deutlich über eine klassische UVP hinaus (Kap. 6.1) und die zusätzlichen Detailanalysen haben die gemeinsame Erstellung eines sehr spezifischen Maßnahmenkatalog erlaubt.
Anmerkung: Die Vergleichsuntersuchungen in einer ähnlichen Stadt (siehe Kap. 4.3.1 .c und Kap. 4.6.3.2) weisen darauf hin, dass die Beachtung und adäquate Behandlung dieser möglichen Störungs- und Gesundheitsproblematik nicht nur ein Grazer Problem darstellt.