Die Holding Graz Linien (kurz: HGL) hat ein „Factsheet“ erstellt, mit dem Informationen und Argumente, die für den Einsatz der Variobahn sprechen, kommuniziert werden sollen. Auch soll die Entscheidung für diesen Fahrzeugtyp gerechtfertigt werden.
Werden auch wichtige Themen und Fragestellungen behandelt und werden diese aus der Sicht der Betroffenen beantwortet? Welche Informationen fehlen? Handelt es sich um echte Information oder um ein Schriftstück aus dem Bereich „Marketing“ und/oder „PR“? Welcher Eindruck soll hervorgerufen oder aufrechterhalten werden?
Hier finden Sie die Überschriften der einzelnen Abschnitte der HGL- Factsheets [HGL] und unsere Kommentare [BI] dazu.
Download Factsheet Variobahn der HGL – Stand 11/2014
(Die Inhalte der in unregelmäßigen Abständen geänderten bzw. „aktualisierten“ Versionen unterscheiden sich teilweise sehr, Link öffnet in einem eigenen Fenster/Tab)
[HGL] Eine der meist geprüften Ausschreibungen der Holding Graz
[BI] Ein Nahverkehrsspezialist, eine renomierte Rechtsanwaltskanzlei, der Bundesrechnungshof, der Stadtrechnungshof und der Unabhängige Verwaltungssenat haben an der Ausschreibung mitgearbeitet bzw. diese überprüft und für richtig befunden.
[BI] Was wurde geprüft? Darüber gibt es keine Informationen. Daher ist anzunehmen, dass die technischen Merkmale, die Umweltverträglichkeit und die gegebenen Betriebsbedingungen in Graz nicht Gegenstand der Überprüfung waren. Was das Ergebnis ist, wenn mehrere öffentliche Stellen nur formelle Kriterien prüfen, ist mittlerweile hinlänglich bekannt …
[BI] Außerdem wurde in einer vorliegenden Anfragebeantwortung an den Gemeinderat angeführt, dass versucht wurde, aus dem Vertrag auszusteigen, dies aber nicht möglich war. Somit kann der Vertrag nicht alle Anforderungen an ein einwandfreies Vertragswerk erfüllt haben.
[HGL] Variobahn erfüllt die höchsten Sicherheitsstandards
[BI] Das Wort „höchste“ ist hier fehl am Platz. Wie im weiteren Text angeführt, gibt es nur „die internationalen Standards“, auch wenn sie sich deutlich verändert haben bzw. die Anforderungen gestiegen sind. Somit stellt sich primär die Frage, werden die Standards nicht erfüllt oder werden sie erfüllt. Dass ein technisches Produkt, das am Markt erhältlich ist, die aktuellen Sicherheitsstandards erfüllt, kann als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden.
[HGL] Die Top-Ten der Variobahn auf einen Blick
[BI] Einige Kommentare zu den Top-Ten, die wahrscheinlich die Alleinstellungsmerkmale darstellen sollen:
- [HGL] Größere Fahrgastkapazität
[BI] Diese wird mit 151 Plätzen angegeben (gegenüber 147 und 139 Plätze der anderen Anbieter). Auf der Website der Holding Graz Linien steht bzw. stand am 16.10. 2015 unter den FAQ (Abk. engl., oft gestellte Fragen) jedoch, dass die Kapazität der Variobahn 145 Fahrgäste beträgt (47 Sitzplätze und 98 Stehplätze). Damit ergibt sich sogar eine geringere Kapazität als bei einem der weiteren Anbieter. Diese ist im gleichen Factsheet-Text mit 147 Plätzen angeführt.
- [HGL] Niedrigere Betriebs- und Instandhaltungskosten
[BI] Kann sein, dass dies auf die Fahrzeuge zutrifft. Wie sieht es aber mit den erforderlichen Erhaltungskosten für das Schienennetz aus? Wurden diese auch evaluiert und berücksichtigt?
- [HGL] Niedrigere Anschaffungskosten pro Fahrgastplatz
[BI] fraglich, siehe Punkt „Fahrgastkapazität“
- [HGL] Optimale Einstiegs- und Ausstiegsmöglichkeiten durch den 100% Niederfluranteil
[BI] Das ist kein echtes Alleinstellungsmerkmal, diesen 100% Anteil hat nicht nur die Variobahn (siehe Cityrunner).
- [HGL] Aus über 200 Bewertungskriterien ging die Variobahn als technisch modernstes Fahrzeug hervor
[BI] Welche Kriterien wurden wie bewertet? Waren darunter auch Punkte wie- Laufruhe
- Betriebsemissionen und
- Umweltverträglichkeit?
- Gab es auch eine Gewichtung der Subkriterien und wie sah diese aus?
[HGL] Variobahn von mehreren Stellen offiziell zugelassen
[BI] Diesen Punkt sollte wohl jedes Fahrzeug erfüllen, das man anschaffen will. Allerdings stellt sich die Frage, warum das so besonders hervorgehoben wird?
[BI] Das wichtigste Kriterium gemäß Eisenbahngesetz ist, dass die Fahrzeuge dem „Stand der Technik“ entsprechen. Der Vergleich mit den älteren, technisch vergleichbaren Fahrzeugen, wie z.B. dem Cityrunner zeigt jedoch, dass dies nicht der Fall ist … sonst würde wahrscheinlich auch nicht herstellerseitig nachgebessert werden.
[BI] Weiters hat im Prüfungsverfahren die Volksanwaltschaft festgestellt, dass ein Missstand in der öffentlichen Verwaltung vorliegt, weil die eisenbahnrechtliche Bauartgenehmigung für das Projekt „Variobahn Graz“ mit Bescheid des Landeshauptmannes für Steiermark vom 17. Februar 2010, GZ FA18E-81.50-131/2009-6, erteilt wurde, ohne dass eine ausreichende Schlüssigkeitsprüfung des in dem – mit dem in Rede stehenden Bescheid abgeschlossenen – Bauartgenehmigungsverfahren vorgelegten Gutachtens im Sinne des § 32a Abs.3 Eisenbahngesetz 1957 vorgenommen wurde (das vollständige Schreiben als PDF).
Die Volksanwaltschaft ist der Auffassung, dass genannter Bescheid auf Grund der mangelhaften Schlüssigkeitsprüfung des Gutachtens rechtswidrig ist.
[HGL] Mehr Komfort bedeutet mehr Gewicht
[BI] Die Variobahn ist also schwerer als die bisher verwendeten Fahrzeuge. Was das bedeutet, wurde offensichtlich nicht beachtet. Über die höheren Emissionen und die Konsequenzen für das Schienennetz steht nichts im „Factsheet“. Der Hinweis, dass ältere Fahrzeuge keine aktuelle Zulassung mehr erhalten würden, liefert an dieser Stelle keine wirkliche Information und nur mit dem Gewicht hat das ohnehin nichts zu tun (dann wären die alten Garnituren mittlerweile zu leicht?). Fortschritte im Bereich der Werkstoffe und moderne Konstruktionsmethoden bedeuten nicht zwangsläufig, dass Sicherheit und Komfort mit einem höheren Gewicht einhergehen müssen.
[HGL] Vertragsausstieg mit hohen Kosten verbunden
[BI] Ein interessanter Hinweis. Das heiß also im Klartext: Die Grazer haben nun die Variobahn, da die Holding Graz Linien nicht aus dem Vertrag aussteigen konnte, obwohl sie das selbst wollte. Anscheinend wurde es verabsäumt, entsprechende Garantien und Klauseln auszuverhandeln. Interessant ist diese Tatsache auch im Hinblick auf einen der folgenden Punkte, in dem auf die Bewertungskriterien eingegangen wird. Dort wird der Vertrag mit der Firma Stadler als der vorteilhafteste Vertrag bewertet.
[HGL] Projektchronologie
[BI] Der Projektstart erfolgte im August 2005. Bis zur Abgabe der Angebote im Jahr 2007 vergingen zwei Jahre. Die Lieferung der ersten Fahrzeuge erfolgte 2009. Die Lieferung der letzten Fahrzeuge erfolgt Ende 2015. Das ergibt eine Projektlaufzeit von über 10 Jahren.
[BI] Das bedeutet, dass die Fahrzeuge teilweise bereits bei ihrer Inbetriebnahme dem technischen Stand von vor zehn Jahren entsprechen. Von Vertragsbedingungen, die sicherstellen, dass die Fahrzeuge, wie bei lanfgristigen Projekten allgemein üblich, an den jeweiligen „Stand der Technik“ anzupassen wären, wird im Factsheet nichts erwähnt.
[HGL] Gewichtung der Bewertungskriterien
[BI] Es wird betont, dass allein im technischen Bereich über 250 Kriterien berücksichtigt wurden. Weil es keine Informationen gibt, welche Kriterien das waren, gehen wir, wie schon an anderer Stelle erwähnt, davon aus, dass auf folgende Punkte vergessen wurde;
- Laufruhe allgemein
- Fahrverhalten in engen Kurven
- Betriebsemissionen oder
- Umweltverträglichkeit
[BI] Da die beiden unterlegenen Anbieter ohne Berücksichtigung der Bewertung für den „Vertrag“ exakt die gleiche Punkteanzahl erreicht haben, wäre eine Analyse interessant gewesen, die die Unterschiede und deren Plausibilität hinsichtlich der Variobahn beurteilt hätte.
[BI] So bleibt der Eindruck, dass der Bereich „Technik“ absolut und relativ überbewertet wurde und mit einem ergänzten Kriterienkatalog vielleicht sogar ein anderes Ergebnis hinsichtlich der „Gesamtbewertung“ hervorbringen würde.
[BI] Denn auch für die „Instandhaltungskosten“ gilt eine ähnliche Vermutung: wurden hier nur die Instandhaltungskosten der Fahrzeuge oder auch allfällige notwendige Investitionen in das Schienennetz aufgrund der Typenentscheidung berücksichtigt? Denn der aufmerksame Beobachter konnte im Vorfeld der Inbetriebnahme der Variobahn auf den jeweiligen Abschnitten eine rege Bautätigkeit feststellen (Stichwort: Breite der Fahrzeuge).
[HGL] Technische Merkmale der Variobahn
[BI] Hier handelt es sich größtenteils um Merkmale die Variobahn nicht unbedingt von anderen Straßenbahnen unterscheidet (die detaillierte Aufzählung entnehmen Sie bitte dem Factsheet). Hier einige Anmerkungen:
- [BI] Die einfache Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten durch einen modularen Aufbau, hat offensichtlich nicht funktioniert.
- [BI] Zwei Wagenteile ohne Radkästen („Sänften“) hat auch der Cityrunner.
- [BI] Großzügige Gestaltung der zweiten Sänfte als Mehrzweckabteil klingt etwas übertrieben.
- [BI] 4 Außenschiebetüren hat ebenfalls bereits der Cityrunner. Wobei kritische Stimmen meinen, eine weitere Türe würde den Fahrgastwechsel an den Haltestellen merklich beschleunigen.
- [BI] Kein Grazer wird „spezifische Grazer Kennzeichen der Variobahn(?): Kopfform, Farbgebung, Innenraumgestaltung“ definieren können und davon eine besondere Beziehung zur Variobahn ableiten. Gemeint ist wohl, dass auf die Vorstellungen der HGL eingegangen wurde …
- [BI] Betreffend Fahrzeugdaten können wir nur festhalten: die zusätzlichen Tonnen an Leergewicht merkt man wirklich.
[HGL] Auszug aus der Stellungnahme des Stadtrechnungshofs zum Variobahnkauf (Februar 2011)
[HGL] Aus der Sicht des Stadtrechnungshofs ist dem Grunde nach (technisch, betriebswirtschaftlich) sowie hinsichtlich Typenentscheidung und Stückzahl alles nachvollziehbar.
[BI] Allerdings wird auch angeführt: eine eingehende Prüfung des Vergabevorganges haben wir nicht durchgeführt, da dieser bereits Gegenstand einer Prüfung des Rechnungshofes sowie eines Verwaltungsverfahrens war.
[BI] Was in diesen Verfahren tatsächlich Gegenstand der Prüfung war und was das jeweilige Ergebnis, dazu gibt es keine Informationen. Eine Abstimmung der prüfenden Stellen, um eine lückenlose Prüfung sicherzustellen, ist naturgemäß fraglich.
[HGL] Sicherheit – Komfort – Selbstständigkeit
[BI] Hier handelt es sich um eine Aufzählung diverser Merkmale, die sich, wie auch andere an diversen Stellen aufgezählte Merkmale, nicht wirklich von üblichen zeitgemäßen Ausstattungsdetails unterscheiden.
[HGL] Umgesetzte Maßnahmen und Verbesserungen
Hier gibt es eine Aufzählung von
- Maßnahmen am Fahrzeug
- Vergrößerung des Gummikörpers im Rad
- Weichere Primärfeder im Lauffahrwerk
- Einbau eines elastischen Gummi-Metall-Elements in den Fahrwerken
- Einbau eines Schwingungstilgers
- Verwendung eines weicheren Dämpfungselements im Bereich der Anlenkstangen
- Anbringung von Schallschutzplatten am Unterboden
- Infrastrukturmaßnahmen
- Messungen
[BI] Dass alle bisher umgesetzten und/oder hier angeführten Maßnahmen nicht ausreichend waren bzw. sind und teilweise sogar zu Verschlechterungen geführt haben, können Sie auf dieser Website an vielen Stellen nachlesen. Experten sehen in den angeführten Punkten primär Hinweise auf Konstruktionsmängel, die durch nachträgliche Maßnahmen schwer bis gar nicht zu beseitigen sind. Auch gibt es für einige Aspekte, wie z.B. Weichen, nicht einmal ansatzweise eine Idee, wie diese Probleme zu lösen wären.
[BI] Fazit
[BI] Mit dem Factsheet soll lediglich der Eindruck erweckt oder aufrecht erhalten werden, dass es sich bei dem aktuellen Zustand um eine weitreichende Verbesserung des öffentlichen Verkehrs handelt und allfällige „Startschwierigkeiten“ lösbar sind und/oder bereits beseitigt wurden.
[BI] Es handelt sich also um ein PR-Schriftstück und wie daher nicht anders zu erwarten ist: Es ist eine Abhandlung von einigen positiven und hauptsächlich allgemeinen Merkmalen einer Investitionsentscheidung, die die verursachten Probleme und Versäumnisse nicht erwähnt oder relativiert.
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