Gutachten Lercher – Executive Summary

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des Gutachtens von Ao Univ.-Prof. Dr. med. Peter Lercher, M.P.H., Götzens, Juli 2015

2 Executive Summary

Die Inbetriebnahme einer neuen Generation von Straßenbahnfahrzeugen (Variobahn) hat zu einem beträchtlichen Anstieg von Anrainerbeschwerden wegen veränderter Belastungen durch Erschütterungen und Lärm geführt.

Die akustische Zulassungsuntersuchung der Variobahn ergab keine Überschreitung des Grenzwerts nach der SchLV. Die von der Holding in Auftrag gegebenen Schall- und Erschütterungsuntersuchungen haben keine Überschreitungen der technischen Richtwerte nach ÖNORM S 9012 zum Schutz des Menschen ergeben.

Eine von der Landesregierung durchgeführte Erschütterungsuntersuchung wies jedoch eine deutliche Überschreitung der Richtwerte an einem Messpunkt nach (Sonderabbildungen 1 bis 3).

Das danach von der Holding eingeleitete Maßnahmenpaket zur Reduzierung der Erschütterungsbelastungen hat nach den technischen Untersuchungen eine deutliche Verbesserung erbracht. Eine Nachmessung an dem kritischen Messpunkt der Landesregierung mit Überschreitungen im Jahr 2012 ergab zuletzt (Jänner 2015) keine Überschreitung der ÖNORM S 9012.

Die meisten Anrainer bemerken auch zwischenzeitliche Verbesserungen, die aber nach ihren Aussagen nicht nachhaltig sind und weiterhin zu Beschwerden führen. Die im Rahmen des Gesundheitsgutachtens durchgeführte vertiefende Untersuchung der aktuellen Erschütterungs- und Lärmsituation unter Einbezug psycho-akustischer Analysen hat im Wesentlichen beide Befunde bestätigen können.

Es hat einerseits signifikante Verbesserungen bei den durchschnittlichen Erschütterungsbelastungen gegeben. Es verbleiben jedoch ausgeprägte Variationen der Erschütterungsimmissionen insb. durch die Variobahn, welche durch die Dauermessstelle (Sackstraße 14) gut dokumentiert werden. Hier werden auch zuletzt nach wie vor Überschreitungen (~2%) des Auslösewertes (s. Kap. 6.6.2) nachgewiesen.

Im Mittel ist die Erschütterungsbelastung durch die Variobahn nach wie vor höher als die durch den CityRunner verursachte. Diese Ergebnisse dürfen jedoch nicht isoliert, sondern können nur in einem Gesamtkontext mit den begleitenden akustischen Immissionen korrekt interpretiert werden. Denn die vertiefende Untersuchung hat diese hohe Variation der Immissionen insbesondere auch für ausgewählte psychoakustische Parameter nachweisen können, die für die Belästigungsreaktion von großer Bedeutung sind. So konnte eine hohe Streuung für den Parameter „Schärfe“ besonders ausgeprägt an den Messpositionen beobachtet werden, wo mit höherer Geschwindigkeit (>35 km/h) gefahren wird. Die Einführung einer streng überwachten Geschwindigkeitsbegrenzung in Abschnitten der Theodor Körner Straße war deshalb ein wichtiger erster Schritt. Es besteht jedoch die Notwendigkeit betriebstechnisch ähnlich überwachte Geschwindigkeitsbeschränkungen (insbesondere in den Abend- und Nachtstunden) an anderen kritischen Stellen (z.B. im Bereich von Kreuzungen, Weichen) umzusetzen, wo gemäß dem Obergutachten Erschütterung (Flesch) die Belastung sofort zu verringern wäre.

Aber auch für andere untersuchte psycho-akustische Parameter (Lautheit, Rauigkeit) wurden im Mittel höhere Werte für die Variobahn im Vergleich mit dem CityRunner nachgewiesen. Insbesondere der Indikator „Rauigkeit“ weist auf große Probleme der Variobahn hin.

Eine entscheidende Frage verbleibt:
Warum bleiben die Beschwerden der Anrainer trotz der im Mittel nachgewiesenen Verbesserungen (seit Sommer 2012) bei den Erschütterungen bestehen? Dafür sind mehrere Faktoren verantwortlich.

Die zwei Hauptprobleme sind:

1. Ordnungspolitische Konzepte der Zulassung und Bewertung (siehe Kap. 3.2). Die Zulassung beschränkt sich auf die ausschließliche technische Überprüfung der Intensität akustischen Immissionen für Schienenfahrzeuge (egal ob Vollbahn oder Straßenbahn). Eine subjektive Beurteilung der Immissionen durch geschulte Beobachter findet nicht statt (CALM network: „consideration of perception“).

Die Zulassungsüberprüfung findet auch nicht im künftigen Einsatzgebiet statt. Der in der Umgebungslärmrichtlinie verankerte Schutz ruhiger Gegenden mit niedrigen Hintergrundpegeln bleibt in diesem Kontext weitgehend unberücksichtigt. Die auftretenden Immissionen (Lärm, sekundärer Luftschall und Erschütterungen) werden separat in Richtlinien abgehandelt – es findet keine integrierte Behandlung dieser Immissionen in der Beurteilung statt. D.h. für jede einzelne Immission wird eine „Auffüllung“ bis zum Grenz-/Richtwert als konform mit einer Zulassung gesehen und bewertet. Somit bleibt der Stand der medizinischen Wissenschaften, der von bekannten Kombinationswirkungen zwischen Lärm und Erschütterungen ausgeht, unberücksichtigt.

2. Die Veränderungen im Straßenbahnwesen und im Straßenbahnumfeld (siehe Kap. 3.1.1) Insbesondere die Ausweitung der Fahrzeiten in den Nachtzeitraum betrifft eine sensible Zeit aus gesundheitlicher Sicht, da der menschliche Organismus in dieser Zeit eine stark erhöhte Empfindlichkeit gegenüber externen Störungen (für Lärm z.B. 13-15 dBA) zeigt, die auch durch den Kompromiss niedrigerer Grenzwerte für die Nachtzeit – wenn kombinierte Immissionsbelastungen vorliegen – nicht hinreichend berücksichtigt wird.

Der Stand des medizinischen Wissens hat sich insbesondere für die gesundheitlichen Auswirkungen von nächtlichen (Beispiel Schienenbonus) und kombinierten Lärm- und Erschütterungsbelastungen signifikant verändert (Kap. 5). Dieser neue Wissensstand wird in den aktuellen österreichischen Richtlinien und der SchIV nicht mehr vollständig abgebildet (siehe auch die Aussage des Verwaltungsgerichtshofs ZI 2010/03/0014).

Die Gesamt-Abschätzung kombinierter Einwirkungen bleibt insbesondere dann nicht hinreichend berücksichtigt, wenn nur technische Richtlinienkompetenz der Einzel-Expositionen zur Anwendung gebracht wird.

3. Die erweiterten Analysen haben aufgezeigt, dass der Hintergrundschallpegel an etlichen Messpunkten in der Nacht niedrig liegt. D.h., dass sich ein sehr hoher Signal-Rauschabstand für die Straßenbahnimmissionen in den Wohnungen ergibt und die Wahrnehmbarkeit für jede Art von Immission deshalb deutlich erhöht ist (Kap. 4.3.2.5).

Da der Mensch psycho-physiologisch relativ zu seiner gewohnten sensorischen Reizumgebung (Adaptationsniveau, „soundscape“) reagiert, ist unter solchen Bedingungen eine höhere Belästigungsreaktion vorprogrammiert.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die objektiv nachweisbare Verschlechterung der akustischen und der Erschütterungsbelastung nach Einführung der Variobahn auch subjektiv identisch wahrgenommen wurde.

Die von den Anrainern geäußerten Beschwerden sind auf Basis der erweiterten Analysen nachvollziehbar und es sind dringend weitere spezifische Maßnahmen notwendig, um mögliche Belästigungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen (siehe Kap. 6.1 und 6.3.3) zu vermeiden. Deshalb wird angeregt, für die im Kap. 6.6 ausgeführten Zielvorstellungen und Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, kurzfristig außerordentliche budgetäre Mittel bereitzustellen. Auf eine adäquate und kontinuierliche Evaluierung unter professionell moderierter Beteiligung der Öffentlichkeit sei hingewiesen (Kap. 6.6.3).

Abschließend sei erwähnt, dass durch die stichprobenhaften Vergleichsuntersuchungen in einer anderen Stadt deutlich wurde, dass die Erschütterungseinwirkungen an einem hochbelasteten Abschnitt sogar über dem Grazer Belastungsniveau liegen. D.h. dass die Fragestellung und die Ergebnisse dieses Gutachtens auch für andere Städte eine hohe Relevanz hat.

Im Kontrast dazu fanden wir jedoch signifikant höhere Mittelwerte und Streuungen für belästigungsrelevante psychoakustische Parameter (wie z.B. „Schärfe“, Rauigkeit, Signal-Rauschabstand etc.) in Graz.

Dieses Ergebnis legt eine europäische Kooperation nahe, in welcher sich die Ziele der Belastungsreduktion im öffentlichen Verkehr an der Wahrnehmung der betroffenen Bürger orientieren und wo Zulassungen nicht nach dem Prinzip „one fits all“ sondern nach spezifisch regionalen Erfordernissen ordnungspolitisch umgesetzt werden.