Seite 86 – 91 von 91
des Gutachtens von Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Rainer FLESCH, Wien, Oktober 2015
Hervorhebungen wie im Originaltext
4 ERFORDERLICHE MASSNAHMEN
Zwischen den Gutachtern Lercher und Flesch besteht Einvernehmen, dass wegen der seit dem Betrieb der Variobahn in Graz vorherrschenden Einwirkungen zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, welche über die derzeit übliche Vorgangsweise hinausgehen. Es besteht ferner Einvernehmen hinsichtlich der Zielvorstellungen für die Umsetzung. Auch die Maßnahmenkataloge in beiden Gutachten zielen in die gleiche Richtung.
Es besteht ein Handlungsbedarf, der durch folgende 12 Maßnahmen abgedeckt werden muss:
1.
Es muss weiter in einem vernünftigen Rahmen versucht werden, die Ursachen der Anrainerbeschwerden näher zu analysieren. Die Anrainer sollten hierbei möglichst eingebunden werden. Ein gutes Gesprächsklima zwischen HGL, Anrainern und den Gutachtern ist hierbei hilfreich. Es muss die Zielvorstellunq vorherrschen, den Zustand vor Inbetriebnahme der Variobahn so gut wie möglich wiederherzustellen.
2.
Die laufenden Bemühungen zur Minimierung der Schwingungsemissionen der Variobahn müssen fortgesetzt werden. Dies betrifft insbesondere Verbesserungen am Fahrwerk. Es sind möglichst jene Anregungsfrequenzen zu unterbinden, die im Bereich der ersten Eigenfrequenzen von Fahrweg – Untergrund – Gebäude liegen. Ferner sollten auch alle möglichen antriebsseitigen Maßnahmen ergriffen werden, welche eine rasche Bildung von Flachstellen, Radunrundheiten, etc. vermeiden. Zusätzlich sollen auch die Schallemissionen der Variobahn näher untersucht werden. Möglicherweise können dann Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die Einwirkungen in den von den Anrainern als besonders störend eingestuften Terzkomponenten zu reduzieren.
3.
Ferner ist der Betrieb zumindest einer Erschütterungs – Dauermessstelle erforderlich. Über die bisherigen positiven Erfahrungen mit der ersten Messstelle (Sackstraße 14) wird im Abschnitt 2.6 berichtet. Die Messungen erfolgen im Kellerbereich. Die Messstelle muss derart angeordnet sein, dass innerhalb kurzer Zeit möglichst der gesamte Fuhrpark vorbeifährt. Ferner soll betreffend Fahrweg, Boden, Bauwerkstyp und Abstand des Bauwerks vom Fahrweg eine Situation vorliegen, welche für möglichst viele Stellen im Grazer Straßenbahnnetz charakteristisch ist. In unmittelbarer Nähe der Dauermessstelle soll sich ferner kein Haltepunkt (Ampel, Haltestelle, etc.) befinden. Mittels der gemessenen Daten sind folgende Ziele verfolgbar:
a. Ermittlung der statistischen Verteilung der Erschütterungsbeanspruchung zufolge der tatsächlich auftretenden Szenarien betreffend Fahrzeugzustand, Fahrgeschwindigkeiten und Fahrverhalten, Tageszeit, Verkehrssituation, Witterungsverhältnisse, Zustand des Fahrweges im Nahbereich der Messstelle, etc.
b. Erkennen schadhafter Fahrzeuge (Flachstellen, etc.) und Veranlassung der erforderlichen Maßnahmen. Das rasche Einziehen von schadhaften Fahrzeugen ist nicht nur für den Erschütterungsschutz sondern auch für die Vermeidung von Beschädigungen des Fahrweges erforderlich.
c. Hochrechnung von Erschütterungsprognosen auf die obigen, tatsächlich auftretenden Szenarien. Diese Möglichkeit des Nachweises ist besonders wichtig, da Anrainer immer wieder argumentieren, dass die bei ihnen über wenige Stunden durchgeführten Messungen nicht repräsentativ waren. Falls gut geeignete Dauermessungen durchgeführt werden, kann über bereits verfügbare Datenbanken eine Hochrechnung auf die verschiedenen, in Graz vorhandenen Deckentypen und ein Vergleich mit den maßgeblichen Richtwerten vorgenommen werden.
4.
Der Obergutachter und die HGL legen gemeinsam zusätzliche qualitätssichernde Kontrollmessungen fest, welche in bestimmten Zeitabständen durchzuführen sind. Diese Messungen finden ohne vorherige Ankündigung unter der Aufsicht des Obergutachters statt. Es kommt hierbei eine mobile Erschütterungs- und Schallmessstelle an unterschiedlichen Stellen des Straßenbahnnetzes über mehrere Stunden zum Einsatz. Hierdurch werden einerseits zusätzlich zur Dauermessstelle weitere Daten für verschiedene Stellen in Graz gewonnen, andererseits können – je nach Fortschritt des Wissensstandes – gezielte Messungen zur weiteren Verbesserung der Situation vorgenommen werden.
5.
Die Einhaltung der jeweils vorgeschriebenen Fahrgeschwindigkeit muss mit Nachdruck überwacht werden, da bei der Variobahn eine zu hohe Fahrgeschwindigkeit, zu rasches Bremsen oder Beschleunigen zu einer verstärkten Schwingungsanregung führt.
6.
Für Streckenneubauten und Streckenumbauten wird seit vorigem Jahr (Umbau der Linie 1 im Bereich Hartenauerstr. – Auersperggasse) ein modernes Konzept für einen „maßgeschneiderten Erschütterungsschutz“ eingesetzt. In vielen Fällen wird eine schwere Impedanzplatte eingebaut. Die optimale 1. Eigenfrequenz eines etwaigen Masse – Feder -Systemen wird auf Basis von Messungen mittels Schwingungsgenerator (z.B. MoSeS/ AIT) festgelegt. In manchen Fällen hat sich hierbei herausgestellt, dass es wegen des Übertragungsverhaltens des Bodens bzw. der Deckeneigenfrequenzen in den Anrainergebäuden besser ist, die Fahrbahnplatte ohne elastische Zwischenschicht direkt auf der Impedanzplatte zu lagern.
Betreffend die Weichenbereiche gibt es leider noch keine effiziente konstruktive Lösung. Hier sind weitere Entwicklungsarbeiten dringend erforderlich, da die Variobahn bei jeglicher Gleisunregelmäßigkeit zufolge des hohen Gewichtes zu einer verstärkten Schwingungsanregung (Impulsanregung) neigt.
Aus obigem Grund ist auch eine besonders gute Pflege des Fahrweges erforderlich, um Gleisunregelmäßigkeiten und die hierdurch verursachte Impulsanregung insbesondere durch die Variobahn zu vermeiden.
7.
Das Vorhaben „verlängerte Variobahngarnituren“ darf nur dann umgesetzt werden, falls es vorher gelingt, die Schall- und Erschütterungsemissionen maßgeblich zu verringern.
8.
Falls das nächste Mal neue Straßenbahntypen ausgeschrieben werden, sollen in den Ausschreibungsbedingungen Umweltanforderungen betreffend die Erschütterungs- und Schallemissionen vorgegeben werden. Betreffend die Erschütterungen soll z.B. gefordert werden, dass bei 20 Vorbeifahrten an der aktuellen Dauermessstelle der 95% Fraktilwert sämtlicher im Zeitraum 11. Juli bis 16. August 2015 gemessenen Vorbeifahrten eingehalten wird.
9.
Ausschließlicher Einsatz von selektionierten Fahrzeugen mit entsprechend niedrigem Immissionscharakter (Erschütterungen + Schall) im Nachtzeitraum 22:00 bis 06:00 und nach Maßgabe betriebstechnischer Möglichkeiten später auch in den Abendstunden.
10.
Falls erforderlich sind zur Sicherstellung der Nachtruhe zumindest jene, mit zumutbaren finanziellen Mitteln realisierbaren Maßnahmen (siehe Abb. 4-1) zu treffen, auch wenn diese über die derzeit gültigen Normen und Richtlinien hinausgehen.
11.
Die Variobahnen sollen bestmöglich auf das gesamte Netz aufgeteilt werden, um durch den Fahrzeugmix eine Verringerung der durchschnittlichen Immissionen zu erzielen.
12.
Es wird sicherlich noch geraume Zeit vergehen, bis die nun vorliegenden Erkenntnisse in die maßgeblichen Normen und Richtlinien einfließen. Die HGL wird aufgefordert, ihre Planer zu beauftragen ab sofort die neuen Erkenntnisse aus dem vorliegenden Obergutachten sowie dem umweit- und sozialmedizinischen Gutachten [5] nach bestem Wissen und Gewissen und nach Maßgabe der technischen Umsetzbarkeit zu berücksichtigen.
Die HGL und die Grazer Stadtpolitiker werden aufgefordert, die für die Umsetzung der obigen 12 Maßnahmen erforderlichen finanziellen Mittel vorzusehen. Diese Maßnahmen müssen trotz Sparpolitik gesichert sein. Es besteht nur dann Aussicht auf eine Beruhigung der augenblicklichen angespannten Situation, wenn die obigen 12 Maßnahmen nach bestem Wissen und Gewissen umgesetzt werden.
5 ZUSAMMENFASSUNG
Im gegenständlichen Obergutachten werden der Fachbericht [1] Beurteilung der Rrschütterungsimmissionen in ausgewählten Objekten – Messreihe S, tappauf.consultants GmbH, Stahlbau, baudynamik & erschütterungsschutz. Proj. D 10049, Bericht – Nr. 8234, 02.03.2015 inklusive Anhang [2] sowie der Messbericht Schall- und Erschütterungsschutzanalyse Straßenbahn Graz, IBV-Fallast und TU-Graz, 27.02.2015 [3] begutachtet. Zusätzlich enthält der Abschnitt 2.7 dieses Obergutachtens Anmerkungen zum umweit- und sozialmedizinischen Gutachten [5].
Die Untersuchungen wurden in 6 Objekten in Graz sowie in 2 Objekten in einer vergleichbaren europäischen Stadt durchgeführt. Letztere Messungen wurden freundlicherweise von den Anrainern ermöglicht, welche aber anonym bleiben wollen. Dies ist selbstverständlich zu akzeptieren, weshalb von den Objekten X1 und X2 gesprochen wird. Der Obergutachter betont, dass hm sämtliche Messberichte vorliegen und er seine Kontrollen auch betreffend diese Objekte durchgeführt hat.
Univ. Prof. Dr. Peter Lercher wurde von der Holding Graz Linien der Auftrag erteilt, auf Basis sämtlicher bisher durchgeführter Untersuchungen zu den Themen Lärm- und Erschütterungsbeeinträchtigung der Straßenbahnanrainer in Graz ein umwelt- und sozialmedizinisches Gutachten [5] betreffend die Gesundheitsverträglichkeit für die Anrainer zu erarbeiten. Auf seinen Wunsch wurden Schallmessungen mittels eines Kunstkopfes sowie psychoakustische Auswertungen dieser Messungen [3] durch IBV Fallast und die TU Graz durchgeführt.
Die von tappauf.consultants GmbH durchgeführten Untersuchungen der Erschütterungs- und Sekundärschallimmissionen erfolgten gemäß den allgemein anerkannten Regeln des Fachgebietes Erschütterungs- und Sekundärschallschutz sowie den geltenden ÖNORMEN und Richtlinien. Die Berichte [1,2,3] sind vollständig und plausibel. Insgesamt ergeben alle bisher durchgeführten Untersuchungen ein plausibles, zusammenhängendes Gesamtbild.
Auf Basis der Untersuchungen in [1] kann nun zusammen mit dem umwelt- und sozialmedizinischen Gutachten [5] und dem gegenständlichen technischen Obergutachten auch der künftige Zustand im Grazer Straßenbahnnetz richtig beurteilt werden.
Die Messungen der Erschütterungsimmissionen in den obigen Objekten haben ergeben, dass die derzeit geltenden ÖNORMEN und Richtlinien eingehalten werden. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Variobahn unter gewissen Voraussetzungen (z.B. zu hohe Fahrgeschwindigkeit, zu rasches Bremsen oder Beschleunigen, bei Schienenunregelmäßigkeiten / insb. Weichen, bei Flachstellen der Räder, bei ersten Eigenfrequenzen von Fahrweg – Untergrund – Gebäude im Bereich von 40 Hz) zu unangenehmen Einwirkungen auf Anrainer durch „grummelartiges Vibrieren/ Dröhnen“ führen kann.
Im Zeitraum 11. Juli bis 16. August 2015 verkehrten baustellenbedingt in der Sackstraße keine Variobahnen. Die höheren Erschütterungsemissionen durch die Variobahn sind aus der Gegenüberstellung der Messergebnisse der Dauermessstelle Sackstraße 14 für diesen Zeitraum mit anderen Zeitabschnitten deutlich erkennbar.
Auf Basis der Schallmessungen mittels Kunstkopf [3] und des umweit- und sozialmedizinischen Gutachtens [5] kommen die Gutachter Lercher und Flesch nun zur Schlussfolgerung, dass wegen der seit dem Betrieb der Variobahn in Graz vorherrschenden Einwirkungen zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, welche über die derzeit gültigen Normen hinausgehen. Insbesondere ergeben sich die folgenden drei Forderungen.
- Es sind betriebliche Maßnahmen zu ergreifen, welche sicherstellen, dass in den Nachtstunden von 22:00 bis 06:00 nur selektierte, emissionsarme Fahrzeuge eingesetzt werden.
- Falls erforderlich sind zur Sicherstellung der Nachtruhe zumindest jene, mit zumutbaren finanziellen Mitteln realisierbaren Maßnahmen (siehe Abb.4-1) zu treffen, auch wenn diese über die derzeit gültigen Normen und Richtlinien hinausgehen.
- Die dritte Forderung wird schon seit einiger Zeit intensiv umgesetzt. Es wird daran gearbeitet, Fahrwege mit erhöhtem Erschütterungs- und Sekundärschallschutz herzustellen, um die Immissionssituation ebenfalls zu verbessern.
Insgesamt ergaben die durchgeführten Untersuchungen, dass die Erschütterungs- und Sekundärschallimmissionen im Bereich des Grazer Straßenbahnnetzes dem Stand der Technik unter Berücksichtigung der Sicherheit und Ordnung des Betriebes der Eisenbahn, des Betriebes von Schienenfahrzeugen auf der Eisenbahn und des Verkehrs auf der Eisenbahn einschließlich der Anforderungen des Arbeitnehmerschutzes entsprechen. Aus der Sicht des Obergutachters ist jedoch die „beste verfügbare Technik“ anzustreben, wofür die im Kapitel 4 dieses Obergutachtens aufgelisteten Maßnahmen verbindlich umgesetzt werden müssen.
gezeichnet
Wien, den 13. Oktober 2015
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Rainer FLESCH