In den Sommermonaten stehen wieder einige Projekte betreffend „Straßenbahn“ auf dem Plan.
Hinweis: Die folgenden Ausführungen richten sich weder gegen die Straßenbahn an sich, noch gegen einen Ausbau des Straßenbahnnetzes. Kritisiert wird die Auswahl eines für den innerstädtischen Bereich anscheinend ungeeigneten Fahrzeugtyps und der Umgang der Stadt Graz und der Holding Graz Linien mit den daraus resultierenden Problemen. Die im Vergleich zu den übrigen Straßenbahntypen in Graz wesentlich höhere ungefederte Masse der Variobahn führt in zahlreichen Konstellationen zwangsläufig zu Problemen und unnotwendige Erhöhungen der Immissionen sind die Konsequenz.
„117,4 Millionen verleihen der Bim Flügel“, „Die Weichen sind gestellt“, „Bim auf Schiene“ – mit diesen Schlagzeilen informiert die Stadt Graz im BIG vom März 2018 über wesentliche Erweiterungen des Grazer Straßenbahnnetzes bis 2023. Soweit so gut. Wie zukunftstauglich und umweltverträglich sind jedoch diese Investitionen im Hinblick auf die urbane Lebensqualität der anwohnenden Bevölkerung in den Schienenstraßen? Ist „Urban Future“ eine leere Worthülse? Oder wird ernsthaft auch an einer technischen Qualitätsverbesserung des Schienen-ÖV in Graz gearbeitet?
Die vielfältigen Erfahrungen der vergangenen Jahre, die Anrainer der Grazer Straßenbahnlinien mit der Vorgehensweise der Holding Graz Linien haben, lassen einige Befürchtungen aufkommen.
Da es im Vorfeld keinerlei Informationen und Aufklärungsarbeit gibt, was genau geplant ist und wie sich die technisch mehr oder weniger evaluierten Maßnahmen auf die Wohnqualität auswirken werden, kann man nur daraus schließen, dass die Verantwortlichen der Holding Graz Linien selbst nicht wissen, was das Ergebnis sein wird. Oder man wagt es nicht, das Ergebnis im Vorfeld zu kommunizieren. Andere Erklärungen gibt es nicht – sehr bedenklich.
Abgesehen von den Problemen an den Bestandsstrecken, auf denen die Variobahn verkehrt, gibt es einige Beispiele, was bei „baulichen Maßnahmen und Verbesserungen“ der Holding Graz Linien schieflaufen kann:
- Theodor-Körner-Straße
Die Immissionen haben nach dem Neubau des Gleiskörpers und Maßnahmen gegen Erschütterungen zugenommen – eine Verschiebung der Frequenzen und eine wesentliche Verstärkung der Erschütterungen und des Lärms sind das Ergebnis.
- Annenstraße
Die Baumaßnahmen vor und bei der Unterführung haben dazu geführt, dass Erschütterungen und Sekundärschall auch in die Metahofgasse (auf die gegenüberliegende, abgewandte Seite des Häuserblocks) übertragen werden.
- Jakominiplatz und Umgebung
Der Austausch der Weichenanlage und Maßnahmen gegen Erschütterungen, haben auch hier zu einer Verschiebung des Problems in etwas tiefere, aber noch immer hör- und besser fühlbare Frequenzbereiche geführt. Die zu engen Kurvenradien im Bereich der Wendeschleife über die Schmiedgasse/Radetzkystraße führen, wenn von einer Variobahn befahren, ebenfalls zu starken Vibrationen.
- Linie 1 – sogenannter „zweigleisiger Ausbau“
Die Idee, auf den sanierten Streckenabschnitten zur Vermeidung von Weichen bei den Gegenverkehrsbereichen sogenannte „Zwillingsgleise“ einzusetzen, hat sich ebenfalls als Flop erwiesen. Für (im Optimalfall) minimale technische Vorteile verärgert man hunderte Anrainer, die nun durch eine atypische Variante der Schienenverlegung mit wesentlich höheren Schallimmissionen konfrontiert sind.
Die einzigen baulichen Maßnahmen, die anscheinend wirklich die Immissionen in ausreichendem Ausmaß reduziert haben, dürften die Maßnahmen im Bereich der Endstation der Linie 7 beim LKH gewesen sein. Welche Maßnahmen dort erforderlich waren, wurde nicht kommuniziert.
Jedenfalls sollten die Maßnahmen im Bereich der Reiterkaserne im Sommer 2018 und bei der angekündigten Neugestaltung der Gleisdorfergasse die gleiche Qualität haben. Umfangreiche Messungen und Analysen vor Ort werden notwendig sein, um eine aussagekräftige Immissionsprognose (auch wegen der Weichen) erstellen zu können.
Baustelle Reiterkaserne – ein Ausblick
Die physikalischen Grundlagen eines Teils der Probleme (Erschütterungen, Sekundärschall) bilden „Masse-Feder-Systeme“. Die Dimensionierung eines Masse-Feder-Systems ist eine umfangreiche Optimierungsaufgabe und erfordert fundiertes und spezialisiertes Know-how. Noch aufwendiger wird die Abstimmung mehrerer solcher Systeme (Fahrzeug und Gebäude). Abstimmungs- und Ausführungsmängel in Zusammenhang mit Masse-Feder-Systemen lassen sich nachträglich, wenn überhaupt, meist nur unter immensem Aufwand beheben.
Schwingungsisolierung (schematische Darstellung)
Die Grafik zeigt als Beispiel, dass es im Bereich der Eigenfrequenzen von Holzdecken (die Standardkonstruktion im Altbau, größtenteils im Bereich 8 Hz bis 16 Hz) durch nicht sorgfältig abgestimmte Maßnahmen beim Gleisbau, zwangsläufig zu unerwünschten Wirkungen kommt. Denn eine Verminderung im höheren Frequenzbereich, kann eine überproportionale Verstärkung bei den tieferen Frequenzen mit sich bringen – noch immer in einem Frequenzbereich, auf den der Mensch empfindlich reagiert. Und je tiefer die Frequenz der Erschütterungen ist, desto weniger Abminderung erfolgt über die Entfernung, d.h. die Anzahl der Betroffenen wird größer.
Aus der Anrainersicht: Bauseitig gibt es keine Maßnahmen, die nachträglich eine Verbesserung bei Erschütterungen bringen, diese wären beim Hausbau vorzunehmen. Ein Einbau von Schallschutzfenstern o.ä. führt lediglich dazu, dass der Sekundärschall noch besser wahrnehmbar wird. Somit sind die Anrainer, die sich im konkreten Fall am Ende der Wirkungskette befinden, machtlos.
Es gilt auch in Graz der allgemein anerkannte Grundsatz: Erschütterungen und Sekundärschall-Immissionen sind an der Quelle zu vermeiden bzw. zu beseitigen. Oder zwischen der Straßenbahn und den Wohnräumen, wenn beim Emissionsverursacher alle bisherigen technischen Maßnahmen mehr oder weniger nutzlos waren.
Normen und Zulassungsverfahren sollen und müssen ein Mindestmaß an technischen Standards gewährleisten, Kompatibilität sicherstellen und eine aktive Gefährdung durch die Technik an sich ausschließen. Für die Beurteilung der darüber hinausgehenden „qualitativen“ Anforderungen, die für den Alltag zu berücksichtigen wären, sind die Normen nicht unbedingt geeignet und auch nicht gedacht. Normen sind auch keine Gesetze und müssen den aktuellen Stand der Technik nicht unbedingt wiedergeben und schließen bessere/höherwertigere Varianten natürlich nicht aus.
Auch wird die reale Betroffenheit der AnwohnerInnen durch die angewandten Methoden nicht adäquat abgebildet. Denn eine Eliminierung von Spitzenwerten bzw. „Ausreißern“, Bewertungen und Durchschnittsbetrachtungen, noch dazu auf Basis von Messwerten, die weder den Zeitraum eines ganzen Jahres noch die realen Betriebsbedingungen abbilden, können nur zu einer Diskrepanz zwischen „normgerecht“ und den tagtäglichen Wahrnehmungen führen (z.B. wenn man morgens um 05:00 Uhr schon durch eine besonders „schlechte“ Straßenbahn geweckt wird, die vom vielleicht gerade noch akzeptablen Durchschnitt wesentlich abweicht).
Unter Laborbedingungen erfolgt die Zulassung – der laufende Betrieb erfolgt jedoch ganzjährig unter Realbedingungen: auch bei gefrorenem Boden, verunreinigten Schienen, mit Flachstellen der Räder und sonstigen Verschleißerscheinungen etc. Die Vermutung, dass einen nicht unerheblichen Teil des Jahres die Normwerte, auf die man sich beruft, nicht eingehalten werden, kann die Holding Graz Linien mit dem bisher veröffentlichten Datenmaterial nicht wiederlegen!
Akzeptanz wird damit sicher nicht erreicht. Das Zulassungsverfahren trägt auch nicht dazu bei, da anscheinend lediglich sichergestellt wird, dass alle Seiten eines eingereichten Dokuments vorhanden sind. Eine technische Überprüfung von Herstellerangaben ist in der Steiermark nicht vorgesehen. Auch mit allen möglichen (auch EU-weiten) politischen Lärmschutz- und Lärmvermeidungsprojekten und aufwendig erstellten Lärmkatastern passt das nicht zusammen.
Der „Stand der Technik“ wird ebenfalls immer wieder als Argumentationshilfe verwendet, für Fahrzeuge und Maßnahmen, die eben nicht diesem Standard entsprechen. Welches Gebiet, wenn nicht die „Technik“, steht für einen nachhaltigen Fortschritt, ständige Verbesserung und eine Erhöhung des Komforts in allen Lebensbereichen. Ein direkter Vergleich unterschiedlicher Entwicklungsstadien und -qualitäten der eingesetzten Fahrzeuge, wie sie im Grazer Straßenbahnnetz unschwer zu beobachten sind, macht jeden Unterschied noch offensichtlicher.
Generell gilt der Grundsatz: Alles was vermeidbar ist, ist zu vermeiden – man kann sich nicht auf eine Norm berufen, um vermeidbare Emissionen zu rechtfertigen.
Ein Beispiel – Baulärm. Dazu schreibt die Stadt Graz auf ihrer Website:
Bei der Einrichtung von Baustellen ist auf eine geringstmögliche Lärmbelästigung für die Nachbarschaft zu achten.
Graz Umwelt: Baulärm – gewerblich
Die Schallemissionsgrenzwerte sind Maximalwerte und es muss jeder unnötige Baulärm vermieden werden. Auf jeden Fall sind moderne und lärmarme Geräte einzusetzen – und eine Baustelle ist nur eine temporäre Einrichtung!
Ein weiteres Beispiel: auch wenn ein Kraftfahrzeug die geltenden Abgasnormen erfüllt, ist es nicht gestattet den Motor im Stand „warmlaufen“ zu lassen.
Paragraf 102, Absatz 4, des Kraftfahrgesetzes (KFG)
„Der Lenker darf mit dem von ihm gelenkten Kraftfahrzeug (…) nicht ungebührlichen Lärm, ferner nicht mehr Rauch, üblen Geruch oder schädliche Luftverunreinigungen verursachen, als bei ordnungsgemäßem Zustand und sachgemäßem Betrieb des Fahrzeuges unvermeidbar ist. (…) ‚Warmlaufenlassen‘ des Motors stellt jedenfalls eine vermeidbare Luftverunreinigung dar.“
Für Experimente gibt es keinen Spielraum, denn dazu steht zu viel auf dem Spiel:
- Wohnqualität im urbanen Raum, die für die nächsten Jahrzehnte (solange die Variobahn durch Graz fahren wird) vernichtet wird,
- die Akzeptanz eines effizienten und komfortablen Verkehrsmittels, der Straßenbahn, und
- beschränkte finanzielle Mittel, die mit teuren und fehlerhaften/mangelhaften Baumaßnahmen und Instandhaltungskosten höchst ineffizient eingesetzt werden.
Im Nachhinein mit simplen, logisch inkonsistenten PR-Texten die Situation schönzureden, finden wir nicht akzeptabel und schon gar nicht hilfreich. Und die Konsequenzen der ignoranten Auffassung, dass damit die physikalischen Gesetze „umgangen“ werden können, bekommen die Anrainer im Minutentakt präsentiert.
Baustelle Linie 1 – ein Ausblick
Auch das Argument, dass für zusätzliche/weitere Maßnahmen keine finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, kann nicht akzeptiert werden. Jeder, der sich mit Planung, Projektmanagement und/oder Qualitätsmanagement auseinandersetzt, weiß, dass Kosten für Fehler/Nachbesserungen umso höher sind, je später sie anfallen.
Fehlerkosten
Was in der Planungsphase noch als „Alternative“ oder „Konstruktionsvariante“ behandelt werden kann, führt nach der Auslieferung zu rasch zu Kostenbelastungen, die ohne weiteres den Wert des angeschafften Produkts übersteigen können, wenn unerwünschte und übersehene Eigenschaften nachträglich beseitigt werden sollen.
Wenn sich nachträglich herausstellt, dass Emissionen höher als erwartet ausfallen und in eher problematischen Frequenzbereichen liegen, und diese nur mit aufwendigen Maßnahmen nachträglich wesentlich reduziert werden können, dann hat das der Auftraggeber zu verantworten, falls wegen u.U. ungenauer oder fehlender Garantiebestimmungen nicht der Hersteller in die Verantwortung genommen werden kann. Stehen dafür keine finanziellen Mittel zur Verfügung, wurde, zusätzlich zum fehlenden Konfigurations- und Risikomanagement, ein weiterer Planungsfehler auf der finanziellen Ebene „eingebaut“.
Daher fordern wir, dass die geplanten Maßnahmen vollständig und transparent noch vor den Bautätigkeiten öffentlich kommuniziert werden. Auf eine sinnlose nachträgliche „Kommunikationsoffensive“ und FAQs (inkl. „Greenwashing“) können alle Betroffenen, auch im Sinne der Kosteneffizienz, jedenfalls verzichten.