Printausgabe der Tiroler Tageszeitung vom Mo, 01.04.2019 – kein Aprilscherz!
In den Grundfesten erschüttert: Neue Straßenbahn in Innsbruck zu laut
Die Vorfreude auf die neue Straßenbahn war groß – bis sie zum ersten Mal fuhr und die Anrainer aus dem Schlaf riss. Ein Lärmexperte fordert, die Grenzwerte zu überdenken.
Innsbruck – Die Aufregung rund um die Verspätungen der zusätzlichen Straßenbahnlinien in Innsbruck hat sich gelegt, ruhig geworden ist es entlang der neuen Route aber nicht: „Dabei haben wir uns so darüber gefreut, dass die Zeit der stinkenden Dieselbusse, die regelmäßig direkt an unserem Haus vorbeifuhren, endlich vorbei ist. Und jetzt das!“, sagt ein Anrainer. Er wohnt mit seiner Frau seit 40 Jahren in der Innsbrucker Schützenstraße im Olympischen Dorf, die beiden investierten rund 40.000 Euro in die Renovierung der Mietwohnung – verlorenes Geld, wie der Mann heute meint. „Jetzt muss ich mit 67 Jahren noch auf Wohnungssuche gehen, weil das hält niemand aus“, sagt er im Gespräch mit dem TT-Ombudsteam.
Denn nachdem zwei Jahre Bauzeit „mit viel Lärm, Dreck und Staub“ endlich überstanden waren, zerstörte „das laute Rumpeln“ der neuen Tram alle Hoffnungen auf ruhigere Zeiten. „Bei der ersten Probefahrt haben wir gedacht, ein Panzer fährt die Schützenstraße hinunter“, schildert der Anrainer das Ausmaß der Belästigung. Dabei geht es weniger um den Lärm durch die Straßenbahn, sondern vielmehr um die Vibrationen, die über den Boden übertragen werden. „Die Tram fährt im Sieben-Minuten-Takt in eine Richtung, also alle drei bis vier Minuten stadtein- und auswärts an unserem Haus vorbei.“
Der Innsbrucker ist nicht der einzige Betroffene, laut Harald Muhrer, bei den Innsbrucker Verkehrsbetrieben zuständig für die Infrastruktur, gibt es rund ein Dutzend Beschwerden. Nachdem der Boden aufgetaut war, konnten wie versprochen von einem Wiener Unternehmen erste Messungen durchgeführt werden, doch das Ergebnis ist für die Betroffenen ernüchternd: „Die Grenzwerte wurden nicht erreicht“, heißt es dazu kurz von Seiten der IVB. Dadurch bestehe auch kein Handlungsbedarf: „Bei erhöhten Messwerten müssten wir vier Meter hinuntergraben, um senkrechte Matten anzubringen, die Übertragungen auf die Gebäude verhindern.“
Die Beurteilung von Immissionen, die durch den Schienen- und Straßenverkehr in Gebäuden verursacht werden – Schall- und Erschütterungsschutz –, wird in der ÖNORM S 9012 geregelt. Die Grenzwerte sind laut Muhrer je nach Gebiet unterschiedlich. In der Schützenstraße in Innsbruck – da es dort Geschäfte gibt, ist sie als Wohn- und Gewerbegebiet gewidmet – gelten weniger strenge Regeln als in einer reinen Wohnsiedlung. „Pech gehabt“ heißt es auch für alle Bewohner alter Gebäude, die viel empfindlicher als andere reagieren können, wie Muhrer bestätigt. Der durch Vibrationen übertragene so genannte sekundäre Luftschall könne ein Gebäude „in seinen Grundfesten erschüttern“ und ein „dunkles Grollen“ verursachen. Der Primärschall wird dagegen durch die Luft übertragen.
Die IVB setzen offensichtlich auf den Gewöhnungseffekt – „den Leuten wird nichts anderes übrig bleiben, und in anderen Stadtgebieten war das auch der Fall“ – sowie auf Abhilfe durch neue Straßenbahngarnituren. Muhrer: „Seit einem Jahr werden wir schon vom Zulieferer vertröstet, nächste Woche soll es aber so weit sein.“ Der Bewohner der Schützenstraße hofft, nicht ebenfalls hingehalten zu werden, und bleibt skeptisch: „Das Rumpeln wird wohl bleiben.“ Laut IVB sind jedoch weitere Messungen geplant.
Der Innsbrucker Arzt und Lärmexperte Maximilian Ledochowski hat „zahlreiche Patienten, die darüber klagen, durch die Straßenbahn aus dem Schlaf gerissen zu werden“. Der Infraschall mit seiner tiefen Frequenz werde von Menschen als besonders bedrohlich empfunden – „wie bei einer trampelnden Elefantenherde oder Donnergrollen bedeutet er Gefahr“. Auch 50 Meter entfernt sei er noch zu spüren.
Der Mediziner stellt den Straßenbahnausbau generell in Frage: „Alle neuen Verkehrskonzepte gehen in Richtung Oberleitungsbus-Verkehr ohne Lärm und Schadstoffe, wir greifen auf eine über 100 Jahre alte Technologie zurück, die nicht mehr zeitgemäß ist. Sie müsste eigentlich von heute auf morgen gestoppt werden.“ Auch sollten die Lärmgrenzwerte überdacht werden, „sie haben aus medizinischer Sicht überhaupt keine Bedeutung!“. Denn wenn jemand jede Nacht stündlich an die Tür klopfe, seien die Grenzwerte auch nicht überschritten, „trotzdem hat das große Folgen“.
Die Auswirkungen andauernder Lärmbelästigung wie frühere Pflegebedürftigkeit seien hinlänglich bekannt, die Kosten für die medizinische Versorgung steigen proportional mit der Lärmexposition. Ledochowski: „Wir reden alle über artgerechte Tierhaltung, wir sollten auch einmal über artgerechte Menschenhaltung sprechen.“